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Auf der Reise durch das Paradies

Benjamin Kan

Eine schwere Entscheidung

Es war einmal in einem verwunschenen Städtchen hinter den Bergen des Schwarzen Waldes ein junger Mann Namens Ben. Er lebte in einem kleinen Tempel im Berg. Das Anwesen wurde zum Abhang hin von großen Rubinien gesäumt und im Garten gab es mächtige Walnuss- und Ahornbäume. Dort saß Ben auf seinem Lieblingsplatz hinter dem Tempel. Die steinernen Stufen der kleinen, in den Hang eingelassenen Treppe fühlten sich angenehm warm an. Zufrieden pflückte er sich eine Pflaume und ließ seinen Blick über die Südstadt schweifen.

Am Fuße des Berges glizerte ein breiter Fluss im Sonnenlicht und der Lärm von Wägen und geschäftigem Treiben drang von der dahinter liegende Handelsstraße dumpf zu ihm durch.

In seiner Heimat war er ein Schüler der Heilkunst. Am meisten interessierte ihn daran, warum die Menschen überhaupt krank wurden. Die Lehre war sehr anstrengend und Ben war froh, wenn er Zeit für sich hatte. Am liebsten durchstreifte er dann die wilde Natur. Er sang auch gerne und tat dies oft für andere Menschen. Auf seinem kleinen Kahn unten auf dem Fluss, war immer eine ganz besondere Atmosphäre! Dort begleitete er seinen Gesang mit einem Saiteninstrument, einer Gita die ihm einst seine Mutter geschenkt hatte. Den Lebensunterhalt konnte er damit aber nicht verdienen. Also arbeitete er auch als Wasserwächter. Er half, wenn jemand in Gefahr war oder die Gewässer verschmutzte.

Diese Stadt Names Tuevalon war ein Ort des Friedens, wie es nur wenige im Lande des Adlers gab. Die Stadt war nicht nur mit einer ausgezeichneten Universität gesegnet. Hier gab es auch Kunsthandwerk, Traditionen, Spiel und Sport aus aller Welt. Ausserdem ungewöhnlich viele junge, lebensfrohe Leute Menschen.

Trotzdem hatte man auch hier oft Vorurteile über andere, ohne sie richtig kennen lernen zu wollen. Besonders die Schüler der Heilkunst und Gesetzeskunde bildeten sich oft ein, etwas Besseres zu sein. Sie merkten oft garnicht, wie weit sie sich damit von ihrem Glück entfernten.

Natürlich kannte er hier auch sehr viele aufgeschlossene Menschen. So waren die meisten seiner Mitschüler sehr interessiert und mit besonders viel Verstand gesegnet. Ihre Gedanken waren bestens geordnet. Gerade deshalb wunderte sich Ben, dass sie oft so wenig Initiative gegen Missstände ergreifen wollten. Hielten sie Veränderungen einfach nicht für möglich?

In Bens Welt war Alles möglich. Er konnte sich darüber glücklich schätzen. Denn sein Verständnis half ihm, sich auch ausserhalb festgefahrener Weltbilder - die man damals überall zu sehen bekam - frei zu bewegen.

Zu oft hatte er gesehen, wie sich Fronten gebildet hatten, weil diese toten Bilder gegenseitige Vorurteile schafften oder Menschen sich mit ihnen ignorant profilieren wollten. Das führte zu Misstrauen und fehlendem Austausch bis hin zu boshafter Verfeindung. Wie falsch war dieses Verhalten!

Die Erfahrung zeigte doch, dass das Meiste was diese abgestumpften Angreifer suchten, ihnen von den sich selbst zu Feinden gemachten Menschen wäre geschenkt worden! Hätten sie ihnen nur eine ehrliche Chance gegeben. Sie hatten den Glaube daran verloren, dass ein richtiges Zusammenspiel möglich war. Damit machten sie aber auch die Möglichkeit eines so viel glücklicheren, echteren Lebens für alle anderen Wesen auf der Erde um ihre eigene Menschenkraft, und um die ihrer verunsicherten Mitläufer kleiner.


Bens Entscheidung war gefallen: Er wollte los ziehen in die weite Welt, um seine Erfahrungen im Unbekannten auf die Probe zu stellen. Geführt nur von dem Glaube an das Gute. Er plante sehr wenig Gepäck und keine Wertsachen mit zu nehmen. Das würde garantieren, dass er nur weiter kam, wenn es genügend gutherzigen Menschen dort draussen gab. Und wenn er ihnen auf die richtige Weise gegenüber trat, ohne jemanden berechnend auszunutzen! Wenn es gelang in glücklicher Fügung durch diese unbekannte, große Welt zu reisen, würde vielleicht wenigstens ein innerlich vereinsamter Beobachter seinen Glauben an das Gute im Menschen wiederfinden.

Schätze eines verlassenen Tempels

Er packte all seinen Besitz in Kisten die er in einer alten Scheune verstaute. Jemand anders sollte in seiner Abwesenheit den Tempel bewohnen. Es lag jetzt nur noch ein Rucksack im Raum. Darin hatte er ein paar Kleider, Zelt, Messer, Feuerglas und Seife verstaut. Ausserdem ein kleiner Stoffbeutel. Daneben lagen drei besondere Dinge. Eine kleine Gita, ein Buch und eine schlafende Schlange.

Das Instrument nannte er die Stimme des Meeres. Er hatte sie einst aus dem fernen Land der Sonne mitgebracht. Seine Reise war zwar ungewiss, doch er würde auch jetzt viel Zeit an den Ozeanen verbringen und ihnen zuhören. Später würde er ihre Klänge mit Gesang in die Welt der Städte tragen. Auch war es unterwegs etwas leichter die Herzen der Menschen zu öffnen, wenn er mit der Stimme des Meeres für sie sang!

Das Buch hatte Ben in der gigantischen Sammelhalle des Erdnetzes gefunden, wo es unter einer alten Kommode zwischen einigen Gerümpelkisten lag. Es war in jede Menge im Raum verstreuten unbrauchbaren Spielzeugen, Magieschrott und Kleiderhaufen verloren gegangen.

Es handelte sich dabei nicht um ein gewöhnliches Buch. Jede Information die man seinerzeit im Erdnetz finden konnte, ließ sich in dieses Buch übertragen. Es war ein magischer Gegenstand und die Informationen konnten sich hier sehr lange halten, verblassten aber mit der Zeit wenn man die Energie nicht erneuerte. Bens Augen waren zwar immernoch müde vom monatelangen studieren, doch das Buch musste dabei sein. Für seinen zukünftigen Vorhaben konnte er es sich nicht leisten, so lange keine Bücher zu lesen.

Also hatte Ben Ayratams Hilfe in Anspruch genommen. Ayratam, das Orakel Tuevalons, war eine für das Überleben notwendige Persönlichkeit für die dortigen Schüler der Heilkunst. Sie hatte ein unvergleichliche Gabe, den Schülern Einsicht in die Grundsubstanz und Kreisläufe des Körpers zu gewähren. Ben ersuchte seine Freundin aber für eine ganz andere, besondere Angelegenheit.

Kurz darauf hatte sie ihm auch schon die ihm schwer auffindbaren Schriften des geistigen Meisters Oelin, der einst unten am Fluss gelebt hatte, zukommen lassen. Wenn Ben eines Tages in die Heimat zurückkehren würde, wollte er den Menschen am Fluss davon erzählen oder selbst gemachte Lieder davon singen. Er übertrug auch einige bekannte Lieder begnadeter Musiker in das Buch. Ausserdem durften natürlich Schriften über Heilung nicht fehlen. Es galt verschiedene Methoden zu prüfen, vor denen selbst Tuevalons weltbekannte Universität der Heilkunde die Tore verschlossen hielt.

Die Schlange hatte Ben auf seinen Wanderungen durch die Natur gefunden. Er erinnerte sich noch sehr genau: Sein Freund Mo hatte ihn damals auf seine Hütte in den Steinbergen nördlich vom Land des Adlers eingeladen. Hier gab es riesige Berge mit schneebedeckten Gipfeln, wilde grenzenlose Wälder und glasklare, eiskalte Flüsse. Bei einem langen Marsch durch die Täler hatte er zwischen den Bäumen den Ausgang einer Schlucht entdeckt. Immer tiefer in die Berge war er ihrem Lauf gefolgt, wo die Schlucht in einem ausgehölten Berg endete. Hier hauste seit Urzeiten die schlafende Schlange.

Bis dahin wusste er garnicht, dass es sie wirklich gab, denn sie wurde noch nie von einem Menschen gesehen. Versteckt lag sie zwischen den Steinen, als sich das Echo der herannahenden Schritte in den steil aufragenden Felswänden verlor. Obwohl sie sehr gut getarnt war, bemerkte Ben sofort ihre Präsenz. Was er zunächst für den Wind gehalten hatte, war in Wirklichkeit ihr Atem gewesen. Ein tiefes Surren erfüllte die dunkle Höhle, wie das Schnarchen eines Riesen.
Er näherte sich langsam doch die Schlage regte sich nicht. Plötzlich wurde es Ben klar. Sie schlief tatsächlich!
Ben wollte schon umkehren, doch dieses Tier hatte eine unbeschreibliche Ausstrahlung und so ging er stattdessen noch näher heran. Plötzlich öffnete die Schlange ihre acht Augen. Der Kopf erhob sich und der Oberkiefer entblößte einen einzigen mächtigen Zahn in der Mitte. Kühl musterte sie ihre Höhle, wobei ihre Augen wie die eines Chamäleons abwechselnd in unterschiedliche Richtungen sahen, bis sie schließlich alle starr auf Bens Kopf ausgerichtet blieben.
Ganz langsam setzte sie sich in Bewegung.
Still beobachtete Ben wie das Wesen immer schneller, auf ihn zu schoss. Abrupt verharrte sie direkt vor seiner Nase. Ben blieb einfach sitzen und sah sie interessiert an. Seine innere Stimme hatte ihm schließlich schon von Anfang an gesagt, dass sie ein Freund war. Seit diesem Tag war sie nicht mehr von seiner Seite gewichen. Er nannte sie Maya, die schlafende Schlange.
Auch sie liebte den Tempel in Tuevalon. Wenn sie nicht gerade durch die Gärten schlich, schlief sie meistens friedlich auf dem Fenstersims...

Ben packte alles zusammen. Zuletzt legte er den Stoffbeutel um die Hüfte und begann die unzähligen Stufen vom Tempel den Berg herab zu steigen. Die Bäume wankten sanft im Wind. Bienen und Schmetterlinge tanzten in der Blütenpracht der umliegenden Gärten. Er steckte ein paar saftige Mirabellen ein, die an einem gebogenen Ast über der Treppe hingen. Von hier aus konnte man hinter den Häusern am Fluss friedlich den kleinen Kahn liegen sehen. Stufe um Stufe trennte er sich von all der Schönheit und Geborgenheit hier. Doch er war sich seiner Sache sicher. Er sollte die geliebte Heimat für eine lange Zeit nicht wieder sehen.

Oma Liva

Unten am Wegesrand stand die alte Kutsche, die ihm sein Vater Borka geliehen hatte. Darin hatte Ben besonders wichtige Sachen verstaut, die er jetzt zu seiner Familie brachte. Dort in Freiturm, blieb er lange, besuchte oft seine uralte geliebte Oma Liva und spielte ihr auf der Stimme des Meeres. Ein Mal kam sie wortlos auf ihn zu, und drückte ihm ein paar Silberstücke in die Hand, die fast so alt waren wie sie selbst. Seit fast hundert Jahren hütete sie diesen kleinen Schatz.
Obwohl Oma Liva die Reise nicht gut hieß, liebte sie ihren Enkel sehr. Er würde das Geschenk in Ehren halten und sehr sorgsam damit umgehen. Dass er ausgerechnet jetzt die kranke Oma Liva verlassen würde... seine vier Geschwister würden sich hoffentlich gut um sie kümmern! Und auf Borca war in der Hinsicht immer Verlass, solange ihn die Kräfte nicht verließen.

Mesora – eine Familienresidenz

Gemeinsam reiste die Familie ins Land des Stieres. Das Tal Namens Mesora lag zwischen den Bergen an der wilden Küste des Mittelmeeres. Hier hatten die Ahnen einst ein kleines Paradies ganz nah am Strand gefunden. Liva war dort auf einem Stein sitzen geblieben und hatte sich nicht mehr weg bewegen lassen. Die Familie hatte schließlich ihr ganzes Hab und Gut zusammensuchen müssen, um besagten Stein mitsamt Anwesen am Meer erwerben zu können. Das war nur durch die Unterstützung vieler ehrbarer Freunde der Familie möglich gewesen. Seit Jahrzehnten kamen jetzt schon die Angehörigen aus der ganzen Welt hierher, um sich zu treffen. Es war Bens zweite Heimat. Hier hatte er seine große Liebe fürs Leben gefunden - das weite Meer!

Die Zeit mit der Familie war sehr schnell vorbei. Gerne hätte Ben mehr gemeinsame Unternehmungen gemacht, denn er liebte seine Geschwister sehr! Doch schon bald verschwand die Kutsche wieder klappernd hinter dem bunten Grün kräftiger Pinien, Palmen, knorrig gewundener Kork- und Steineichen sowie vereinzelt überragender Eukalyptusbäume. Hoch über dem Meer passierte sie jetzt die in den Fels gehauene, gewundene Küstenstraße Richtung Norden. Im Tal war nur noch der dumpfe Hall des Hornes hörbar, was die Familie zum Abschied geblasen hatte.

Die Ruhe vor dem Sturm

Die Tage vergingen und mit jedem neuen, kehrten langsam die Lebenskräfte in Bens Adern zurück. Er machte oft stundenlange, einsame Ausflüge durch Meer, Felsen und Wälder. Am liebsten tauchte er mit Maya nach leeren Muscheln oder ruderte, das Gleichgewicht haltend, auf einem schmalen Floß. Er kannte friedliche Buchten und Höhlen. Hier fand er Ruhe oder sang mit klarer Stimme. Manchmal las er dort Bücher, die ihn in Tuevalons Gassen gefunden hatten. Sie handelten vom Wesen der Natur und des Menschen. Für alles was er tat nahm er sich viel Zeit.

So begann er bald die Sprache des Stieres zu lernen, die in weiten Teilen der Welt verbreitet war. Denn ihre Begründer waren große Seefahrer gewesen, die schon seit Jahrhunderten die Ozeane zu überqueren wussten. Einst hatten sie riesige Gebiete grausam erobert und dort ihre Kolonien angesiedelt. Zu Bens Zeit konnte man die weite Verbreitung einiger Sprachen vielleicht wieder mehr dazu nutzen, Einigkeit zu schaffen. Die Völker würden noch verstehen müssen, wie wichtig es dazu war, das Erdnetz und andere Einrichtungen für Austausch, Kundgebung Wissen und Erkenntnisse in die Verantwortung einer organisierten, freien Weltgemeinschaft ohne Geheimnisse zu übertragen!

Mehrmals im Monat kamen viele Menschen zur Erholung nach Merosa. Dann verbrachte Ben die Zeit am Strand und schloss Bekanntschaften. Neben den Einheimischen gab es Besucher aus allen Teilen des Kontinentes und aus dem Reich des Bären. Sogar eine Prinzessinen der Wüstenvölker war nach Merosa gereist, und tauchte mit Ben nach Muscheln.
Von den Dorfbewohnern lernte er viel über seinen Ahnen Opa Izzaka, der noch im ganzen Dorf bekannt war. Er hatte hier immer mit Liva den Winter verbracht, bis er eines Tages uralt und friedlich gestorben war. Er war ein unbeugsamer, ehrbarer Mann gewesen, der sich mit großer Kraft für das Gute eingesetzt hatte. Nur die Familie musste hin und wieder unter seinem ungesunden Stolz leiden.
Aber alle Menschen hier hatten offene Türen für Ben und luden ihn zu Speis und Trank ein. Dann brachte er selbst gemachte Pilzgerichte oder geheime Delikatessen nach Livas Rezept mit.
Nachdem endlich die ganze Arbeit im Garten erledigt und das Haus geputzt war, war Ben schon fast bereit für die Abreise.

Unerwartete Schwierigkeiten

In dieser Nacht gewitterte es heftig. Links und rechts am Haus flossen ganze Bäche vorbei und als er am nächsten Morgen die Tür öffnete traute er seinen Augen kaum. Alles war voller Erde. Oberhalb seines Hauses war vor kurzem ein kleiner Glaspalast im Berg errichtet worden. Doch die Männer hatten vergessen, den Hang rechtzeitig neu zu bepflanzen. Jetzt war dort wo zuvor Erde war, eine große Schlucht entstanden. Die Erde, Felsbrocken und jungen Pflanzen hatten den Zaun durchbrochen und sich über das Anwesen von Bens Familie verteilt. Er würde noch einige Zeit hier bleiben müssen und in gebrochener Sprache die Verursacher zur Verantwortung ziehen...

Als Ben nach einem anderen Tag voller anstrengender Verhandlungen nach Hause kam, war es schon dunkel. Er konnte Maya einfach nicht finden, obwohl er überall gesucht hatte. Am nächsten Tag arbeitete er am Haus, doch sie blieb verschollen. Erst am späten Abend fand er sie schließlich in der Hängematte im Garten. Sie schlief sehr unruhig und war ungewöhnlich blass und schuppig. Sie schien einfach keine Appetit zu haben. Ben fiel auf, dass ihr Zahn gebrochen war. Unerfahren wie sie im Meer war, hatte sie im seichten Wasser beim Spiel mit den Fischen wohl einen Stein erwischt!
Da konnte nur einer Helfen. Onkel Herban! Behutsam brachte er sie zu seinem gutherzigen Nachbarn. Der lebte mit seiner Frau in einem wunderschönen Haus neben dem neuen Glaspalast. Er hatte eine große Schmiedewerkstatt und auch viele seltene Materialien im Lager. Sie beschlossen Maya eine Spitze aus edlem Metall für den Zahn zu fertigen und machten sich gleich an die Arbeit. Die Schlange wand sich unter den Strapazen und die beiden Männer mussten sie mit aller Kraft halten, damit die Operation möglich war. Spät in der Nacht konnte man noch die Funken vom letzten Schleifen fliegen sehen.
Am nächsten Tag lag Maya entkräftet auf dem Balkon. Ben fütterte sie zwei Tage mit einer speziellen Tinktur nach Herbans Rezept, die ein wenig Baumblut enthielt. Am dritten Tag sah sie kräftiger denn je aus. Bald würde sie wieder übermütig im Meer toben.

Erkenntnisse einer anderen Generation: Opa Ahn, Kreta und Marylara

In Merosa gab es eine aussergewöhnlich schöne, große Taverne mitten im Tal. Jetzt war sie wie ausgestorben. Piraten trauten sich schon seit längerem nicht mehr hierher und auch die meisten Besucher waren wieder in ihre Heimat abgereist. Vor langen Zeiten war hier ein Umschlagplatz für die Schätze der Seeräuber, was man dem edlen Gebäude und seinem Palmengarten immernoch ansah. Josemo der Besitzer hatte sogar Zugang zum Erdnetz einrichten lassen, was es in den Dörfern der wilden Küste fast nirgends gab.
Nach einem harten Arbeitstag ging Ben in die alte Taverne um Opa Ahn zu schreiben. Dieser war schon fast so alt wie Liva. Er hatte eine glasklare Auffassungsgabe und konnte meisterhaft strukturiert und präzise erzählen. Ben liebte die Freiheit, Ordnung und Erfahrung in ihrem Dialog... Er beendete diesen mit einer geistigen Umarmung und ging ein paar Schritte zur goldenen Meerjungfrau.

Entrückt saß diese auf einem großen Stein auf einer Klippe und blickte Richtung Süden in die Ferne. Ben folgte ihrem Blick über das wütende Meer bis zum Horizont. Ein kräftiger Wind wehte ihm entgegen, er trug die Stimmung des Aufbruchs. Es war langsam an der Zeit seine Arbeit hier zu beenden!

Zu Mittag hatte er wieder ein Mal zu viel gekocht. Die Rosmarinkartoffeln und das Gemüse dufteten fein. Mit wem konnte er das gute Essen teilen? Dunkel erinnerte er sich an eine alte Frau Namens Kreta, die er nur ein Mal, als er klein war, gesehen hatte. Jetzt wo Oma Liva nicht hier sein konnte, würde sie die Dorfälteste sein. Was war nur mit ihr geschehen? Die Frau hatte schon Jahrzehnte lang ganz alleine hier gelebt, irgendwo am letzten Zuweg hoch oben über dem Dorf. Er machte sich auf die Suche.

Das Haus wurde von einem lustigen Vierbeiner bewacht, der fröhlich jedem Eindringling den Weg hinein zeigte. Ein verzierter Ring aus schwerem Metall hing zum Klopfen an der massiven Holztüre. Ben musste einige Minuten warten, doch schließlich öffnete sich die Türe langsam. Ein durchdringender Blick fiel aus geklärten Augen auf den jungen Mann. Der Ausdruck verwandelte sich in ein wissendes Lächeln und sie bat ihn herein. Kreta war sichtlich erfreut über den Besuch und nahm das warme Essen dankend entgegen.
Im Inneren war nur das zufriedene Schnurren einer Katze hörbar, was die absolute Stille enttarnte. In diesen Räumen verlor man jegliches Zeitgefühl.

„Was würdest Du sagen, ist das wichtigste im Leben?“

fragte Ben unvermittelt, nachdem er Kreta jetzt zum zweiten Mal neu kennen gelernt hatte. Eine Frage die Ben gerne stellte.

„Na das man zufrieden mit sich ist!“

Entgegnete Kreta. Und im Hinblick auf Bens viele Visionen sagte sie:

„Man kann schließlich nicht alles haben!“

Kreta hatte recht.

Aber konnte man nicht alles haben, was man teilen konnte? Und gab man sich erst einmal mit einem mittelmäßigen Weg zufrieden, würde man dann nicht die Möglichkeit echter Harmonie einfach wegwerfen? Falls so ein Zusammenleben erreicht würde, was würde sich dann alles erübrigen? Ob dann überhaupt noch so viel Wünsche und Sehnsüchte in den Menschen aufkommen würden? Oder wären sie einfach zufrieden, weil sie den Großteil ihrer Zeit dann mit ihren Lieben verbringen konnten?

Ben behielt seine Gedanken für sich. Er beschloss zunächst Frieden mit sich zu finden, aber trotzdem zu versuchen immer das Beste aus Allem zu machen!

„Tok. Tok.“ Es klopfte erneut. Eine strahlendes älteres Fräulein stand vor der Türe. Die fröhliche Natur stellte sich als Marylara vor, die wohl einzige Besucherin Kretas. Innerhalb weniger Minuten war der leere Raum mit den verschiedensten, schönen, spielenden Farben des Lebens ausgekleidet.
Sie kannte Geschichten über Alles und Jeden in Merosa. Sie überlieferte dem aufmerksamen Zuhörer die letzten Geheimnisse dieses Magischen Ortes. Auch erzählte sie von Molimo, einem wahren Zauberer der Klänge, der auf der anderen Seite des Berges lebte. Ben besuchte ihn bald darauf. Sie tauschten wertvolle Ideen aus. Eines Tages sollten sie womöglich eine gemeinsame Kreation ins Leben rufen!

Letzte Vorbereitungen

Endlich! Der Pakt mit dem neuen Nachbarn war ausgehandelt. Die Arbeit würde also erledigt werden. Ben war froh, dass sie sich zu guter Letzt friedlich einigen konnten!

Er ging in die Küche und stellte ein kleines Paket zusammen. In den letzten Tagen hatte er die Früchte und Tomaten der jetzt unbewohnten Gärten gesammelt und als Wegzehrung getrocknet. Auch nahrhafte Nüsse und genügend Wasser durften auf keine Fall fehlen. Ausserdem hatte er etwas Kräuterbrot von Onkel Herban und ein Zauberpulver eingepackt. Seine Schwester hatte es vor Jahren für ihn hergestellt. Die Grundlage davon war der den Menschen lange bekannte Zucker. Es konnte für kurze Zeit große Kräfte entfesseln und den Kopf frei machen.

Zu viel davon zerstörte den Körper jedoch langsam. Also bevorzugte Ben Früchte und Gemüse. Diese konnte man ja nur in der gegebenen Komposition mit den anderen Inhaltsstoffen zu sich nehmen. Sicher, man durfte es sogar damit nicht übertreiben! Ein gesunder Körper konnte aber relativ viel davon verwerten, ohne krank zu werden. Vorausgesetzt dass der Boden und das Wasser, woraus die Nahrungsmittel gewachsen waren, nicht zu sehr belastet gewesen waren. Neuartige Düngemittel und andere Abfälle führten nämlich zu deren immer stärkerer Vergiftung.

Ob das wohl auch auf den großen Gemüsegarten der Taverne zutraf? fragte sich Ben als er durch das Dorf spazierte. Plötzlich kamen ihm einige seiner neuen Bekannten entgegen. Sie hatten von seiner baldigen Abreise erfahren. Sie wünschten ihm viel Glück und Freude. Ausserdem schenkten sie ihm einige Ronen, das Zahlungsmittel des ganzen Kontinentes. Er hatte ja gelobt, keine Wertsachen auf seine Reise mitzunehmen! Doch waren diese Menschen nicht schon Teil seiner Reise? Die Probleme am Anwesen hatten ihn hier lange eingenommen und er würde nicht ewig durch die Welt ziehen. Also nahm er die Geschenke dankend entgegen!

Der Tafelstein

Bei seinem letzten Abendspaziergang am Strand fand Ben einen besonders schönen Stein. Er war sehr flach und von ungewöhnlich heller, sanfter Farbgebung. Er erinnerte an eine Art Tafel.
In der Nacht träumte Ben von einem alten Spruch, den er schon vor längerer Zeit irgendwo gelesen und sich zu Herzen genommen hatte:

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.

Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Taten.

Achte auf deine Taten, denn sie werden zu Gewohnheiten.

Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden zu deinem Schicksal.

Aufs neue wurde dem jungen Mann die Wahrheit und Größe dieser Worte bewusst. Denn sie zeigten, wie sehr man sein Schicksal doch selbst beeinflussen konnte!

Mit den ersten Strahlen des Sonnenaufgangs machte er sich an die Arbeit. In der Werkzeugkammer fand er eine Metallspitze und meißelte die Weisheit in das weiße Gestein. Dabei benutzte er nur einzelne Wörter in der Sprache der Möglichkeiten. Er hatte viel Spaß daran und wenige Minuten später konnte er sein Werk begutachten. Den Stein wollte er mit den Schlüsseln des Hauses zusammen an einen geheimen Ort bringen. Der nächste Besucher würde nicht nur einen Schlüssel für die Haustüren finden!

Den Rest des Tages erledigte Ben die übrig gebliebene Arbeit, räumte alles auf und packte zusammen. Todmüde aber sehr zufrieden schlief er bald ein.

Aufbruch ins Ungewisse

Im Morgengrauen machte sich Ben auf den Weg. Noch einmal besuchte er die Meerjungfrau auf der Klippe über dem Meer. Er wusste jetzt, wo sie im Geiste weilte. Eine unsichtbare Kraft zog ihn in diesem Moment in genau die selbe Richtung!

Immer wenn er von seinem Floß vom Meer aus auf das Tal geblickt hatte, war ihm eine Gegebenheit besonders aufgefallen. In der Mitte hoch über dem Tal imponierte die Spitze eines Berges wie der einzige Zacken einer mächtigen Krone, die dabei aus dem umliegenden, bewaldeten Gebirge bestand, in dem das Dorf geborgen lag. Von dort oben würde er seine Reise gen Süden beginnen, dem Ruf der Ferne folgend!

Der junge Mann marschierte los. Die Umrisse der immer kleiner werdenden Gestalt mit dem im Wind tanzenden, wilden Haar, verlor sich langsam im Schatten des Waldes.

Der Wald - Eine Welt voller Leben

Fremde Geräusche drangen aus dem meterhohen Dickicht, welches die mächtigen Stämme der alten Eukalyptusriesen verbarg. Sie wuchsen in der Talsenke entlang des sandigen, steinigen Flussbettes, was jetzt nur noch von einem kleinen Rinnsal durchzogen wurde. An einem der vielen angestauten Tümpel, badete eine Meisenfamilie. Als sie den Mensch bemerkten, flohen sie in die Bäume. Eine majestätische Schleiereule erhob sich dort aus ihrem Versteck und kurz darauf huschte eine Schlange über den Weg. Die Tiere des Waldes waren sehr aufmerksam und arbeiteten zusammen, wenn Gefahr im Verzug war.

Ben wich zur Seite. Direkt neben seinem Ohr war ein tiefes Brummen aufgetaucht. Eine Hummel schwebte im Taumelflug an ihm vorbei. Er blickte ihr nach, bis sie sich auf einem Bäumchen mit prächtigen weißen Blüten niederließ. Es war voller roter Früchte. Ben hatte von ihnen gehört und probierte ein paar. Die köstlichen Früchte erinnerten an runde Erdbeeren, also nannte er sie Baumbeeren. Sie sollten ihm auf seinem Marsch durch die Berge noch oft den Hunger stillen. Er nahm immer nur so viele davon, wie er wirklich brauchte.

Das Tal weitete sich, und der Flusslauf verlor sich in den breiten Füßen der umgebenden Berge. Ein schmaler Weg führte ihn immer tiefer in den Wald. Auf einer Anhöhe lichtete sich das Grün und Ben konnte vom Wegesrand zurückblicken: Die Wipfel der Eukalyptusriesen schmückten den Flusslauf, während sich mit zunehmender Höhe immer mehr heimische Pinien in den Eichenwald mischten. Es hatte dieses Jahr besonders viel geregnet, weshalb alle Sträucher und Bäume in kräftigen Grüntönen im Sonnenlicht leuchteten.

Ben war glücklich. Er atmete die frische Luft in tiefen Zügen, während er gemütlich immer weiter marschierte. Die Geräusche des Waldes waren hier oben verstummt. Nur das hölzerne Klopfen eines Spechtes hallte durch das Tal. Es klang wie Musik in den Ohren des Mannes. Er fühlte sich in der friedlichen Stille hier wirklich zu Hause.

Hinter einer Kurve versperrte unvermittelt eine mächtige Felskugel den Weg. Links und rechts führten ein gut befestigter und einen wild überwucherter Pfad daran vorbei. Ben betrachtete den Stand der Sonne und entschied sich für den wilden Pfad, der direkt in die Höhe führte. Er wollte noch vor Sonnenuntergang die Spitze erreicht haben. Bens ungeschickte Versuche sich durch das Dickicht zu kämpfen, weckten Maja aus ihrem Schlaf. Sie kroch aus dem Rucksack und half ihm, den besten Weg durch das dichte Gestrüpp zu finden. Bald war kein Weg mehr zu erkennen und es ging nahtlos in eine unbewachsene, steil aufsteigende Spur über. Sie war von herabfließendem Regenwasser geebnet worden. Die Erde rutschte unter seinen Füßen ab, doch Ben kletterte unermüdlich weiter nach oben. Manchmal musste er sich an den Ästen der Bäume hochziehen, weil die Steigung zu steil war. Er war sehr dankbar für sein gutes Schuhwerk. Ein weit gereister Schuhmacher hatte ihm in Freiturm bei der Auswahl geholfen. Obwohl die Schuhe letztendlich gar nicht seinen Idealvorstellungen entsprachen, so verstand Ben jetzt, dass er die perfekten Schuhe für diese Reise nur mit seinem Gefühl hatte finden können.

Als er den Hang erklommen hatte, erwartete ihn ein prächtiger Baumbeerbaum. Bald kam er wieder auf einen angelegten Weg. Hier wuchsen überall essbare Pilze. Ein Zeichen dafür, dass hier lange niemand gewesen war. Die Pilze wären sonst längst gesammelt worden! Im Land des Stieres wusste man diese edlen Nahrungsmittel nämlich sehr zu schätzen. Sie waren voller Mineralien, Vitamine und Spurenelemente. Nur wenn die Umwelt nicht sauber war, konnten sie sich mit giftigen Stoffen anreichern. Einige Pilzsorten waren für Menschen tödlich. Deshalb verließ Ben sich nur auf seine Erfahrung, die seine Eltern und die Einheimischen in Mesora mit ihm geteilt hatten.

Er schnitt einen Steinpilz ab, wobei er die Wurzel für das nächste Jahr in der Erde ließ. Es war ein prächtiges Exemplar ohne eine Spur von Wurmbefall. Ein frischer, erdig leichter Geschmack erfüllte seinen Gaumen, als er genüsslich von dem weißen Fleisch probierte.

Die alte Ruine Jahow

Immer höher führte ihn der steinige Weg. Zum Abhang waren große Steine zu Türmen aufeinandergestapelt. Einige Bäume wuchsen quer und bildeten urige Tunnel. In der Ferne sah Ben eine hellgrün leuchtende Blätterdecke mitten in dem dunklen Grün der einheimischen Pflanzen.

Bald hatte er den Ort erreicht. Ein Vöglein setzte sich direkt in den Weg und veranlasste ihn, stehen zu bleiben. Er betrachtete die alte Ruine. Uralte Mauern grenzten die fremden Bäume ein.

Ein tiefer Frieden durchströmte diesen Ort. „Jahow“ kam es ihm plötzlich in den Sinn.

Schilf und Sträucher säumten den großen, steinernen Torbogen. Ben wollte hineingehen. Er musste all sein Gepäck ablegen, denn dort wucherten die verschiedensten Pflanzen und es war unmöglich sich mit Rucksack fortzubewegen.

Im Inneren duftete es fantastisch. Wilde Kräuter wuchsen zwischen den unbekannten, hellgrünen Laubbäumen. Es war ein richtiger Paradiesgarten. Ben fand sich eine Lichtung mit saftigem Graß. Dort wuchsen sanft anmutende, weiße, weiche Blütenwedel. Er sah sich um. Waren das etwa...? Durch Gestrüpp und Geäst hatte er einige große rote Punkte im Zentrum des Gartens ausgemacht. Er steckte sein Hemd ein, denn er musste durch dichte Dornen und würde damit sofort hoffnungslos hängenbleiben. Ganz langsam tanzte er sich seinen Weg durch die Hecke, so dass die Dornen seine zerzausten Haare kämmten, bis er schließlich vor dem kleinen Apfelbaum stand.

Der Baum war voller reifer Früchte. Ben streckte seinen Arm aus, doch die dichte Dornenhecke verhinderte, dass er nahe genug herankam. Maja schlängelte sich geschwind um seinen Arm, benutzte ihren Körper als Verlängerung und Biss zu. So sammelten sie gemeinsam ein paar Äpfel.

Ben musste kurz an eine alte Schöpfungsgeschichte denken, nach der eine Schlange die Urmenschen zum Verzehr verbotener Früchte im Paradiesgarten Eden verführt hatte ... Die Bäume des Garten Erdens jedenfalls schufen ihre Früchte nur zu einem Zweck: Das Leben zu nähren und zu erhalten. Sie schufen ihre Früchte, um sie bereitwillig abzugeben. Einerseits wollten sie damit dauerhafte Beschützer anziehen und andererseits durchreisenden Lebewesen ihre Samen zur Verbreitung mitgeben. Es gab hier - Gott sei Dank - keine nutzlosen Fruchtschöpfungen!

Ben machte einen Knoten in sein Hemd und benutzte es als Tasche für die Äpfel. Er war sehr dankbar für dieses frische Abendessen!

Der junge Mann wollte mehr von diesem Ort erfahren. Er wand sich bis zu einer steinernen Treppe durch, die ihn aus den Dornen auf ein höher gelegenes Steinplateau führte. Er schritt durch die verfallenen Räume einer ehemaligen Tempelanlage. Die Dächer waren eingestürzt und Bäume wuchsen durch Fenster - und Türrähmen. Nach einer Weile war er bis in den letzten Winkel vorgedrungen. Eine zerfallene Plattform eröffnete die Aussicht über den Wald und das blaue, schillernde Meer am Horizont.

Ben wollte nicht den ganzen Weg zurück durch die Dornen, also beschloss er, über die Mauern ins Freie zu klettern. Einige Steine brachen heraus und staubiger Sand regnete auf ihn herab, als er eine Wand über einen Türrahmen, eine zweite Mauer und zwei Fenster erklomm. Vorsichtig balancierte er über die zerfallene Mauer. Links und rechts vielen dicke Steine in die Tiefe, die keinen Halt mehr in den spröden Lehmresten finden konnten. Er hatte die Randmauer erreicht. Doch es war unmöglich hier hinabzuklettern. Unter ihm gähnte ein mehrere Meter tiefer Abgrund, unter dem ein dichtes Dornengewächs wucherte.

Geistesabwesend sah er sich schon die ersten Schritte auf der Quermauer zurück zu balancieren, als ihm plötzlich eine Erkenntnis kam:

Er fühlte sich wie in einem seiner seltenen Alpträume. Es war exakt das gleiche Gefühl: Dort sah er sich über eine labile Konstruktion hoch über dem Boden bewegen, diese gab nach und er fiel hinab. Dann das Gefühl von unkontrollierbarer Beschleunigung, die ihn jäh endend in schwarzem Nichts zurück in die Wirklichkeit katapultierte ... diesmal nicht!

Ben drehte sich um und warf die Äpfel in die Hecke außerhalb, wo sie sanft aufgefangen wurden, bevor sie auf den Boden kullerten. Ohne einen Gedanken im Kopf balancierte er jetzt ganz langsam zurück ans andere Ende der Mauer und kletterte auf den sicheren Boden zurück.

Unwillkürlich musste er sich ärgern - Borca hatte recht gehabt! Er hatte sich immer so große Sorgen gemacht. Doch Ben hatte ihm nur überlegen versichert, dass er keine unnötigen Risiken einging. Er beschloss also sich nie wieder aus Faulheit, Gedankenlosigkeit oder Übermut in Gefahr zu begeben! Mit diesem Tag gehörten auch derartige Träume der Vergangenheit an.

Bevor Ben weiter marschierte, sammelte er noch frische Minzblätter in Jahows Garten. Damit wurde sein Zitronenwasser perfekt.

Als der Mann die Äpfel außerhalb der Mauern einsammeln wollte, musste er niederknien, um sie aus den Dornen zu fischen. Gleichzeitig empfand er eine große Dankbarkeit. Für dieses wunderbare Abendessen und für dieses wunderbare Leben!

Der Berg des Friedens

Der Gipfel des Berges war endlich in erreichbare Nähe gerückt. Ben hatte sich immer wieder durch das dichte Gestrüpp zwängen und den Rucksack hinterher ziehen müssen. Irgendwann stellte er fest, dass er die Hälfte seiner Äpfel verloren hatte. Doch nicht einmal das Gefühl von Missmut konnte heute aufkommen. So zufrieden hatte ihn die viele Bewegung an der frischen Luft gemacht!

Einige schöne Monolithen spickten den letzten steilen, steinernen Aufstieg. Und nach einem Labyrinth von Korkeichen, Sträuchern, Kakteen und scheinbar intelligent platzierten Felsformationen gelangte er endlich zur Spitze.

Was er dort vorfand, übertraf all seine Erwartungen. Am höchsten Punkt des Berges befand sich eine große Höhle. Die interessanten Felsformationen waren von verschiedenfarbigen Moosen übersät. Das Dach hatte eine kleine Aussparung, wodurch sich das Regenwasser in einem steinernen Becken im Inneren sammelte. Ben musste bei dem Anblick an einen Dolmen denken. Uralte Gräber keltischer Druiden, die an diesen Orten ihre positive Energie für die Nachwelt hinterließen.

Er legte seine Sachen ab, hing die verschwitzten Kleider auf das kleine Korkbäumchen am Höhleneingang und kletterte auf den Dachstein. Zum ersten Mal sah er die weit entfernten, benachbarten Dörfer, welche sich hier im Schoße der Gebirgskette angesiedelt hatten. Dahinter verliefen sich die endlosen Wälder in einer flachen, trockenen Ebene, die als beigebrauner Streifen am Horizont erkennbar war. Auf der anderen Seite sah er das geliebte Mesora! Glücklich lag es dort am Meer. Zur Abendzeit, immer wenn die Sonne hinter dem Berg verschwand, riefen die Einheimischen dort so laut sie konnten von ihren Balkonen: »Whazzzza?« was übersetzt so viel hieß wie: » Was geht ab, was macht ihr jetzt?« Doch diesmal konnte Ben sie nicht hören. Er holte tief Luft. Maryla würde ihm eines Tages tatsächlich bestätigen, dass sie an diesem Abend den wilden Schrei eines Mannes von der Spitze des höchsten Berges über Mesora vernommen hatte. Während Mesora in der Dämmerung lag, konnte man die Sonne von hier oben noch lange bei ihrem Untergang hinter dem Berg bewundern!

Ben wollte sein Nachtlager in der Höhle einrichten. Als er sich im Inneren aber genauer umschaute, stellte er fest, dass sich dort überall tunnelartige Spinnennetze an Boden und Wänden befanden. Er wollte das Nest ungestört lassen, und suchte sich einen unbewohnten Schlafplatz. Etwas unterhalb der Höhle fand er eine kleine Lichtung. Neben einem riesigen, duftenden Rosmarinbusch stand ein sonderbarer, handgefertigter Stein. Daneben wuchs ein wunderschönes zartes Blümlein. Hier gefiel es Ben. Er baute sein Lager auf und kletterte mit Maja und der Stimme des Meeres zurück auf das Höhlendach. Plötzlich hörte er ein fürchterliches Gebrüll. Aus den Wolken kam eine mächtige Kreatur auf ihn zugeschossen. Ben versteckte sich in der Höhle, als der goldene Drache direkt an der Bergspitze vorbei fegte. Ein Drachenflüsterer saß auf seinem Rücken und hielt direkten Kurs auf das nächstgelegene Bergdorf. Es musste dort einen Unfall gegeben haben, und sie waren auf dem Weg die Verletzten zu bergen! In vielen Gebieten arbeiteten die Drachen mit den Menschen zusammen. Im Gegenzug versorgten sie die Wesen mit feinstem Erdenblut. So plötzlich, wie es gekommen war, war das Ungetüm auch wieder verschwunden.

Der Himmel über der Bergspitze war von den umgebenden Wolken ausgespart geblieben. Der große, kleine Mann blickte nach oben in die unendliche Weite. So nah war er dem Himmel lange nicht gewesen. Nach der Anstrengung des Tages atmete sein zufriedener Körper mit jeder Pore die gute Höhenluft. Im friedlichen Licht des Sonnenunterganges aß er genüsslich einen Apfel.

Beim Anblick seiner geliebten Heimat war er so glücklich, dass er begann ein Lied zu schreiben:

Mesora

Ich seh Dich da unten leuchtende Häuser bei Dir im Tal Und all Deine bunten duftenden Blumen im Schlaf...

Muss nun weitergehen glückselig war ich hier Doch die Welt bleibt nicht stehen drum trag ich Dich in mir - zu ihr

Und ich werd Dich nicht verliern Dank Dir wird mein Herz nie friern Denn ich liebe Deine wilden Buchten, Schluchten und das Meer so sehr!

Ja wir haben Dich gefunden und mit Dir tausend schöne Stunden und ich liebe Deine wilden Wälder, Felder und den Himmel hier - bei Dir!

Mesora, Mesora! Du bist wahrhaft - ein Paradies!

Bis tief in die Nacht sang er seine Ballade aus voller Seele und spielte die Stimme des Meeres für die uralten Felsen, die seit Jahrtausenden hoch oben über Mesora wachten.

Der silberne, sichelförmige Mond schwebte jetzt über den sich kaskadenartig abzeichnenden Umrissen der Bergkette und ein eisiger Wind fegte über die Landschaft. Jäh wurde Bens Gesang von dem Geheul eines Wolfes unterbrochen. Kurz darauf stimmte ein ganzes Rudel mit ein. Ben weckte Maja, die auf dem Dolmen eingeschlafen war. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum Schlafplatz.

Immer näher kamen die Wölfe, kläfften und jaulten auf der Suche nach Nahrung in der kalten Nacht. Schließlich begannen sie den hohen Berg zu erklimmen, wo sie die fremden Besucher gehört hatten! Ben legte sich im Lager auf die Lauer. Er versuchte auszumachen, wie nah die Tiere bereits waren. Es raschelte laut im Dickicht - die Wölfe waren da! Sie schlichen durch die Büsche und umzingelten das Segeltuch. Ben hielt sein Messer bereit und Maja ließ ihre acht Augen wachsam über die fahl im Mondlicht liegenden Sträucher und Büsche streifen.

Da ertönte plötzlich ein sonderbarer Laut.

Es klang wie das Zirpen einer riesigen Grille. Innerhalb kurzer Zeit war ein ganzes Orchester am Werk und spielte ein unvergessliches Konzert. Die Tiere mussten sich oben in der Höhle versammelt haben, wo sie schließlich alle im selben Rhythmus einstimmten. Durch den Hall und den Gleichklang wurde die Lautstärke dermaßen verstärkt, dass die Laute zu einem tiefen Röhren verschmolzen, welches durch die Nacht hallte. Eine unwirkliche Schwingung durchdrang den gesamten Berg. Man konnte die Wölfe jaulend davon eilen hören, und sogar Maja zog sich in das Zelt zurück. Ben sah vor seinem geistigen Auge eine Gruppe wilder Menschen um ein Feuer sitzen, welche sich mit ihren Trommeln in Trance gebracht hatten. Mit diesem sonderbaren Bild fiel er schließlich in einen tiefen, friedlichen Schlaf.

Die Bergwälder der wilden Küste

Am Morgen wurde Ben vom Gezwitscher der Vögel geweckt, und auch die Bienen waren schon auf dem Rosmarin an der Arbeit. Er nahm sich etwas Zeit, um in sich zu gehen und betrachtete den herrlichen Sonnenaufgang über Mesora.

Beim Abstieg im Wald konnte er überall die Spuren der Wölfe erkennen. Nachdem er sich in Jahow noch ein paar Äpfel abgeholt hatte, begann der lange Weg in den Süden.

Tagelang marschierte er so durch die ungestörte Natur der Bergwälder. Immer wieder pflückte er sich frische Baumbeeren und ihm wurde bewusst, dass es keine menschengemachte Süßigkeit der Welt gab, die er dagegen hätte eintauschen wollen. Einmal fand er sogar einen Feigenbaum in einer alten Ruine.

Ein Wanderweg führte ihn immer weiter auf dem Gebirgsgrat. Er führte ihn tief in den Wald, wo er unvermittelt endete. Jemand musste die Schilder vertauscht haben! Doch bevor er sich über den Streich ärgern konnte, fand Ben ein sonderbares Stück Holz. Sofort verliebte er sich in die knorrige Wurzel. Daraus würde er ein Kunstwerk machen!

Fröhlich setzte er seinen Weg fort wobei er sich am Meer orientierte. Weit hinter den Baumwipfeln erspähte er ein altes Kloster auf einer Klippe. Er folgte einem dunklen Pfad, welcher ihn durch einen Tunnel aus Kletterpflanzen führte. Vorbei an riesigen Felsformationen, die hoch oben im Berg über dem kleinen Weg schwebten, erreichte er schließlich das alte Kloster. Seine Türen waren verschlossen. Daneben aber befand sich ein kleiner Berg mit einem winzigen Häuschen auf der Spitze. Dort sah Ben eine Frau mit einem störrischen Esel kämpfen. Ihre drei Hunde kamen angerannt um den Fremdling zu begutachten. Die Frau namens Luisa hatte wilde, wache Augen und lebte hier mit ihrem Mann ein Einsiedlerleben.

Ben musste gleich weiter marschieren, denn sein Wasservorrat ging zur Neige und auch Luisa konnte keines entbehren. Aber sie erzählte ihm von Tossa, einer nahe gelegenen Festung am Meer. Dort würde er seine Vorräte auffüllen können.

Über sandige Wege setzte er seine Reise durch atemberaubende, wilde Bergformationen fort. Schritt um Schritt lief er mit Leichtigkeit. Die Freiheit beflügelte ihn und seine Lungen atmeten die frische Luft in tiefen Zügen. Mehr und mehr erholte sich sein Körper auch von den tiefen Verkrampfungen seines anstrengenden Schülerlebens. Nur sein Rücken schmerzte von der Last. Nächstes Mal würde er noch weniger Gepäck mitnehmen.

Das heilige Grab

Eines Tages passierte Ben ein unscheinbares zerfallenes Steinhäuschen. Die mächtige Korkeiche daneben fand er zunächst viel interessanter. Als er halb daran vorbei gegangen war, entdeckte er einen Steinhaufen, der sein Interesse geweckt hatte. Er sah sich das altertümliche Grab genauer an, als ihn plötzlich eine sonderbare Wärme umfing. Als er sich umdrehte, blickte er auf eine Wand voller hölzerner Kreuze. Ein kleiner Schrein war dort eingelassen. Von einem eingerahmten Bild blickten ihn die gütigen Augen einer als heilig verehrten Mutter an. Ben wusste nichts über sie, aber er fühlte sich an diesem Ort sehr willkommen. Zum Dank wollte er auch einen kleinen Beitrag leisten. Die alte Eiche hatte ein Blatt in Herzform fallen gelassen, welche normalerweise immer nur olivenförmig wuchsen. Er steckte das Herzblatt zwischen den Kreuzen in die Mauer und wünschte allen Erdbewohnern das Beste.

Eine Nacht in den Bäumen

Fast hatte er die alte Burg von Tossa erreicht. Es lag nur noch der Abstieg durch eine kleine Bergkette zwischen ihm und der Zivilisation am Meer. Ben ließ sich Zeit. Er war müde und wollte Rast und Abendbrot machen! Die Füße schmerzten. Also zog er die Schuhe aus und ging Baumbeeren sammeln. Doch er hatte nicht daran gedacht, dass die Sonne hier unten ja viel früher hinter den Bergen verschwand. Vergeblich suchte er im Dämmerlicht nach einem guten Rastplatz. Jeder freie Fleck zeigte schon die Zeichen eines anderen Bewohners. Überall sah er die Spuren von Wildtieren, zudem war er in einem richtigen Insektenlager gelandet. Das auf unzähligen Haufen nach einem scheinbar intelligenten System geschichtete, schon sonnenbleich vertrocknete Holz war regelrecht durchsetzt von dem verschiedensten Getier. Als Ben die einzige für ein Lager brauchbare Lichtung aufräumen wollte, legte er versehentlich den Eingang zu einem unterirdischen Nest frei. Hunderte rote Tausendfüßler verteilten sich in wenigen Sekunden über die gesamte Lichtung. Sie imponierten mit unsympathischen Zwickinstrumenten am Schwanzende. Mit einem Satz ins Gebüsch räumte der Mensch freiwillig das Feld! Kurz darauf hatte er endlich Glück. Vor ihm spreizte sich ein prächtiger Zwillingsbaum V-förmig dem Himmel entgegen. Die beiden Pinienstämme mit der gemeinsamen Wurzel hatten viele alte, tote Äste zwischen sich. Ben kletterte mehrere Meter hinauf, entfernte dort die toten Äste und fixierte sein Zelt zwischen den Stämmen. Nach der langen Wanderei war es ein unheimlicher Kraftakt, das Hängemattenzelt in der Höhe zu befestigen. Schließlich war er aber sehr zufrieden mit seiner Spezialanfertigung. Jetzt musste er sich keine Sorgen mehr um nächtliche Besucher machen!

Es war bereits dunkel, als er endlich fertig wurde. Erschöpft ließ er sich in sein Lager plumpsen. Da kam auch schon der erste Eindringling. Die Schwärze der Nacht machte es unmöglich irgendetwas in der Umgebung zu erkennen. Das wilde Tier umkreiste den Baum in einem immer engeren Zirkel, bevor es plötzlich in unmittelbarer Nähe in einem Versteck ausharrte und still das schaukelnde Objekt in den Bäumen beobachtete.

Ben aber war so müde, er wollte nur noch seine Ruhe. Er ließ ein tiefes, bedrohliches Knurren hören. Als das Tier darauf hin noch näher kam, gab Ben einen fürchterlichen Urlaut von sich. Der ungebetene Gast rannte um sein Leben. Die nächste halbe Stunde wagte sich auch sonst keines der Waldtiere mehr in seine Nähe. Sofort tat dem Menschen seine Unbeherrschtheit leid. Er wollte eigentlich als Freund in Erinnerung bleiben. Schließlich war er hier in Wirklichkeit der Eindringling!

Die Erschöpfung war so erdrückend, dass Ben sogar Mühe hatte, sich zum Weiteratmen zu bewegen. Auch hatte er keine Lust zu essen. Es wurde besser, nachdem er die letzten Schlucke Zitronenwasser getrunken hatte. Bissen für Bissen zwang er sich jetzt, Onkel Herbans Kräuterbrot zu essen. Langsam kehrte die Kraft zurück, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder durchatmen und sich zur Ruhe legen konnte.

In der Ferne sah er rötlich-golden das Leuchten Tossas zahlreicher Lichter, gefangen im wolkenbedeckten Nachthimmel. Leider bedeutete dieses romantisch anmutenden Farbenspiel jedoch eine massive Störung der Nachtruhe für viele Lebewesen.

Hin und wieder wurde das Panorama von dem lauten Gebrüll eines schwarzen Drachen gestört. Er zog weite Kreise über den felsigen Gewässern vor der Stadt. Die Tossaner waren mit ihm offenbar auf der Suche nach Schiffbrüchigen.

Von Licht und Lärm aus der Stadtnähe vertrieben, trampelte schon bald eine ganze Herde großer Tiere durch die Gebüsche. Diesmal teilte Ben das Nachtlager mit ihnen. Er wusste nicht, was dort unten war, und es war ihm auch egal. Vermutlich waren es nur Rehe. Hoch oben in den Baumkronen fühlte er sich jedenfalls völlig geborgen.

Tossa – die Burg am Meer

Am nächsten Morgen weckten ihn die Strahlen der Morgensonne. Der Lärm von geschäftigem Treiben drang hinter Tossas Bergen bis auf die entlegene Lichtung im Wald vor. Ben frühstückte die Baumbeeren und seine letzten Nüsse. Danach machte er es sich mit dem magischen Buch unter einem Baum gemütlich.

Er begann, vom weißen Land der Seele zu lesen. Während er die Schriften aus dem nordischen Althia Gebirge studierte, eröffnete sich ihm eine neue, interessante Perspektive.

Wie immer musste er die uralten Weisheiten kritisch hinterfragen. Zu viele vermeintliche Meister hatten die Erdbewohner in der Vergangenheit schon in die Irre geführt. Fast immer bezogen diese sich in ihren Lehren auf irgendwelche unprüfbaren Thesen oder bereits verstorbene Propheten. Waren es letztendlich aber nicht immer nur die eigenen, echten, lebendigen Erfahrungen, die einem Menschen den Wahrheitsgehalt von Worten zeigen konnten? So wurde doch jedes zitierte Schriftstück erst durch den sprechenden Menschen ein Teil dieses Lebens! Weise Bücher konnten in Bens Augen daher bestenfalls eine Sammlung von Wahrheiten sein. Der Mensch aber, der sie befolgte, bevor er deren Sinn wirklich erfasst hatte, konnte ein gefährlicher, fanatischer Narr werden. Man erkannte Deresgleichen daran, dass sie ihre eigenen Handlungen nicht mit menschlichen Argumenten erklären konnten ... Wenn ein Verhalten nicht einmal menschlich war, wie konnte es dann je einem göttlichen Charakter gerecht werden?

Der Mann packte alles zusammen und begann mit dem Abstieg in die Stadt. Eine unscheinbare Grille entblößte ihre strahlend blau leuchtenden Flügel, als sie von dem Menschen aufgeschreckt vorwärts sprang. Ihr Intelligenzquotient ließ es offenbar nicht zu, zur Seite auszuweichen, weshalb sie den jungen Mann den ganzen Weg bis zur Stadt hinunter begleitete.

Schließlich war Ben nach vielen Tagen friedlicher Einsamkeit wieder unter Menschen. Er ging auf den Marktplatz, um sich neue Vorräte zu besorgen. Die Fremden warfen dem unbekannten Wilden aus dem Wald misstrauische Blicke zu. Doch als sie seine Ronen sahen, war ihre Scheu schnell abgelegt. Nachdem er frischen Proviant besorgt hatte, suchte er eine Bibliothek auf, um seine magischen Gegenstände aufzuladen. Er übersendete eine kurze Nachricht an seine besorgten Freunde in der Heimat. Als er das Gebäude verlassen hatte, schloss die Hüterin der Bücher hinter ihm ab.

Ein paar Minuten später vermisste Ben seinen kleinen Stoffbeutel. Er musste sich noch in der Bibliothek befinden! Eilig lief er der Frau hinterher, doch hinter einer Häuserecke war sie spurlos verschwunden. Er konnte nicht warten. Schließlich würde das Gebäude erst wieder am Abend öffnen, und Ben hätte dann keine Zeit mehr, ein Nachtlager in der Wildnis zu finden. Auch wollte er seine letzten Ronen nicht für eine Unterkunft ausgeben!

Da entdeckte Ben ein Männlein, welches durch die sonnigen Gassen hinkte. Er hatte es zuvor in der Bibliothek gesehen. Ben erklärte ihm sein Problem und fragte, ob er wüsste, wo er die Hüterin der Bücher finden könne. Der kleine untersetzte Mann schaute ihn mit großen, ängstlichen Augen durch runde, fein geschliffene Gläser an.

Er meinte es sei doch besser abzuwarten und dann heute Abend mit dem Elefantentreiber weiter Richtung Süden zu ziehen. Ben wagte nicht, zu widersprechen. Es wäre wohl unverschämt gewesen, einem Gehbehinderten den Sinn langen Wanderns vorzuhalten. Sollte er sich vielleicht wirklich eine Pause gönnen? Ben bedankte sich für diesen Rat.

Als er weiter lief, tastete er plötzlich seinen vermissten Stoffbeutel unter dem um die Hüfte geschlungenen Wollpullover. Doch er hatte sich schon mit dem neuen Gedanken angefreundet. Er wollte den Tag hier in Ruhe verbringen, und würde sich heute Abend tragen lassen. Entschlossen brachte er seine Sachen zu den Ställen, um die Wasserburg in Ruhe erkunden zu können.

In der Nähe eines Friedhofes fand er eine uralte Tuja. Der Lebensbaum hatte einen kräftigen, meterbreiten Stamm. Dort ruhte der Mensch sich aus. Er gönnte sich ein kleines Festessen mit Brot, Käse und frischem Gemüse vom Markt. Anschließend ging er zum Meer. Nach den Strapazen der letzten Tage, war das Bad im kühlen Nass eine umso größere Wohltat. Er schloss es mit ein paar Dehnübungen ab und fühlte sich wie neu geboren!

Beim Rückweg durch die Stadt fesselte eine winzige Kapelle seine Aufmerksamkeit. Das schlichte, stilvolle Gebäude stand inmitten eines Weges, wo es die Mitte einer neuen Weggabelung ausmachte. Die Tore waren für jeden Besucher weit geöffnet. Ben genoss die Stille im Inneren für ein paar Minuten. Obwohl er sich der Existenz einer übergeordneten Intelligenz bewusst war, konnte er nichts mit prunkvollen Kirchen zu deren Ehren anfangen.

Es war die schlichte Stille in den Gotteshäusern jeglicher Kulturen, in der er Frieden vor der Hektik des menschlichen Leistungswahnes fand. Und dafür war so eine kleine Kapelle völlig ausreichend!

Lieber alleine

Auf dem Rücken eines Elefanten wackelte Ben im Sonnenuntergang über die Bergpassage. Vorbei an ein paar kleinen Städten erreichten sie Balan. Es war ein kleines, hoch gelegenes Dorf. Es schien der einzige Halt zu sein, wo es möglich war, ein ungestörtes Nachtlager unter Bäumen zu finden. Ben klopfte dem Dickhäuter zum Abschied freundschaftlich auf den Hals, bezahlte den Führer und machte sich auf die Suche nach einem Schlafplatz.

Mitten in der Nacht versuchte er, aus dem Häusergewirr in die Geborgenheit der Natur zu finden. Am Straßenrand begegnete ihm ein älteres Pärchen. Sie erzählten ihm von einem großen, offenen Haus in der Mitte eines nahe gelegenen Parkes. Dort würden einige arme Menschen wohnen, und bestimmt noch einen Platz für ihn frei haben.

Als er sich dem Haus näherte, winkte ihm ein junger Mann von dem Balkon. Ein paar Stiefelgroße hundeartigen Wesen kamen auf ihn zu gerannt. Unter hysterischem Bellen eskortierten sie ihn zum Eingangsbereich. Auf der Terrasse vor dem Haus saßen einige zwielichte Gestalten. Ihre freundlichen Züge schienen bitter und verhärtet. Aus irgendeinem Grund waren sie offenbar einer niederträchtigen, weit verbreiteten Krankheit verfallen: Der Sucht.

Der Alkohol, ein Rauschmittel, was die Nervenzellen schrumpfen, platzen und dadurch alle Sorgen vergessen ließ, machte ihnen ihr perspektivloses Dasein erträglich. Gleichzeitig störte das übermäßige Rauchen verschiedener Pflanzen ihre Gedanken. Besonders aber waren sie einem giftigen Tabakgemisch verfallen, was ihre Lungen belegte, so dass sie nicht einmal mehr frei atmen konnten. Der Kampf des Körpers gegen das Gift gab ihnen ein falsches Gefühl der Lebendigkeit. Sie hatten sich so sehr an diesen Zustand gewöhnt, dass sie sich selbst in ihrer Misere gefangen hielten. Der Glaube an das Gute geriet dabei immer mehr in Vergessenheit. Ihr Leben wurde ungenießbar.

Zwei raue Männer waren sich einig, dass sie hier keinen Platz mehr hätten. Ziemlich schroff verkündeten sie ihre Entscheidung. Doch eine ältere Frau beschwichtigte die beiden. Sie sah Ben mit einem sonderbaren Blick an und fragte ihn nach dem Alter. Dabei verzog sie ihr faltiges Gesicht zu einer unwirklichen Fratze, was ein Versuch des Lächelns zu sein schien. In diesem Moment wurde Ben klar, was er wirklich wollte. Er freute sich bereits auf ein einsames, friedliches Plätzchen unter den Bäumen. Unter lautstarker Begleitung seiner kleinen Freunde ging er weiter.

Unweit des Hauses fand er einen ruhigen Pinienhain am Rande einer Wiese. Die Erde war hier von einer sonderbar federnden, schlichten Pflanze bedeckt. Hier wollte er bleiben.

Ein treuer Gefährte

Am nächsten Morgen hatte Ben das Gefühl er habe auf einer Wolke geschlafen. Die Morgensonne belebte den Hain. Ein paar junge Meisen jagten in Form dunkler Schattenflecken durch die langen schwarzen Schattensäulen der Bäume am Boden. Der junge Mann setzte sich wieder mit seinen Schriften auseinander.

Während sein Segeltuch trocknete, machte er einen Spaziergang durch das kleine Wäldchen. Wie würde es nun weiter gehen? Er wusste nicht einmal, wo er war, und seine Füße schmerzten von dem weiten Weg durch die Berge.

Bei einem Spaziergang durch das Wäldchen fand er schneller als erwartet die Antwort auf seine Frage. Er schlenderte gerade durch eine regelrechte Müllhalde zwischen den Bäumen wobei er sich fragte, ob es den Leuten wirklich so egal war, dass sie das empfindliche Gleichgewicht der Natur hier so stark störten ... plötzlich fing ein Bäumlein direkt vor ihm an, heftig zu wackeln. »Nanu?« Er konnte etwas dahinter zappeln sehen!

In einem Erdloch hatte sich ein Esel im Dickicht der Büsche verfangen. Müde regte sich das arme Geschöpf, als Ben sich näherte. Als er sah, dass es ein Mensch war, drehte der Esel ihm aufmerksam den Kopf mit seinen großen Ohren entgegen. Offenbar handelte es sich um ein zahmes Tier. Mit seinem zerzausten Fell sah er ziemlich alt aus. Vermutlich hatte man ihn hier zum Sterben zurückgelassen, weil er nicht mehr arbeiten wollte. Erneut startete der Esel einen zwecklosen Versuch, freizukommen. Traurig schaute er zu dem Menschen hoch. Ben streichelte sein schmutziges Fell und half ihm aus dem Gestrüpp. Das sanfte Tier folgte ihm hinkend. Ben fand einen Stachel in der Hufe. Er zog ihn heraus und versorgte die Wunde. Dann klopfte er die staubige Erde aus seinem Fell.

Da lief der Esel glücklich umher. Immer schneller und kräftiger schnaubte er und begann sofort das saftige Gras zu verschlingen. Wie selbstverständlich folgte er seinem Finder zum Rastplatz und schaute ihm interessiert beim zusammen Packen zu. Maja beachtete den neuen Unbekannten kaum. Sie drehte ihm lediglich ein Auge zu, mit dem sie ihn emotionslos registrierte, bevor sie sich wieder ihrem Schläfchen widmete. Ben mochte den anhänglichen Esel. Er nannte ihn Pedalus!

Auf der Straße nach Malgrat

Als sie den Park verließen, sprang Pedalus übermütig vor ihm her und schubste ihn immer wieder mit der Stirn vorwärts. So stolperte Ben eine Weile den Berg hinab "willst etwa du mein Gepäck tragen?" fragte er irgendwann vorwurfsvoll und blieb stehen. Als dieser nicht aufhörte, band er es dem Esel einfach auf. Das Tier schien plötzlich unbändige Kräfte zu besitzen. Trotz seiner Beladung blieb er störrisch und beharrte darauf schneller zu gehen. Also kletterte Ben auf seinen Rücken. Darauf schien Pedalus nur gewartet zu haben. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung und rannte zufrieden schnaubend den Berg hinab.

Erst an einem gut befestigten Weg im Tal blieb er vor einem hölzernen Schild stehen: “Die Straße nach Malgrat” stand dort in geschwungenen Lettern.

Sie folgten dem Weg Richtung Meer. Er führte über eine lange Brücke, die von meterhohen Schilffarnen umgeben war. Die trockenen, beigefarbenen Hölzer mit den weißen Wedeln waren überall. Sie erstreckten sich im darunter liegenden Flussbett soweit das Auge reichte. Einige wenige Ausläufer des sonst so mächtigen Stromes hatten die Hitze überlebt. Stolz zeichneten sie ihre geschwungenen Kunstwerke in den Korridor aus sandigem Lehm, welcher sich unaufhaltsam durch das Tal zog.

Bald erreichten sie eine große Handelsstraße an der Küste. Sie führte direkt Richtung Süden. Unzählige Kutschen polterten an ihnen vorbei. Sie wirbelten den schmutzigen Staub auf und kamen manchmal gefährlich nahe. Pedalus war etwas unsicher auf den Beinen, doch bald hatte er sich an die neue Situation gewöhnt. Sie kamen an vielen, immer anders aussehenden Dörfern vorbei.

Unerbittlich brannte die Sonne auf den steinernen Korridor. Die kühlenden Schatten hatten sie mit dem Wald endgültig hinter sich gelassen. Gott sei Dank hatte er einen dünnen Papierhut dabei, den er an Mesoras Strand gefunden hatte! Ben musste hin und wieder sein schweißnasses Hemd ausziehen und im Wind trocknen lassen.

In einem der Dörfer erwarb er dann ein schlichtes, kurzes Baumwollhemd am Straßenrand. Er wollte alles, was er nicht wirklich benötigte, gleich los werden. Also verschenkte er das dicke Hemd an einen anderen Armen in der Straße. Es sollte ihn im nahenden Winter wärmen, wenn Ben längst im Süden über alle Berge war.

Sie ritten weiter, immer weiter. Unermüdlich trug sie Pedalus am Meer entlang, durch Schluchten, über Brücken und vorbei an grünen Palmenalleen.

Von Teufeln und Feenwesen

In einem Dorf mit einem schönen Strand machten sie Rast. Ben versteckte seine Sachen hinter einer heruntergekommenen Scheune, die neben einer großen Wiese stand. Pedalus stürzte sich auf einen flecken Gras, der mit leuchtendem Klee gespickt war. Während auch Ben sich eine Hand voll davon einsteckte, verschwand Maja durch einen Spalt im hölzernen Fensterverschlag in dem alten Gebäude.

An der Wiese fand Ben ein Schild. Hier trainierten offenbar Badalons berühmte Fußballspieler. Es war die bekannteste Sportart seiner Zeit. Sie machte viele Menschen auf der ganzen Welt glücklich. Die Ergebnisse großer Spiele wurden über alle Lande verbreitet und die Begeisterung über den Erfolg einer Mannschaft konnte zu Weilen irrsinnige Ausmaße annehmen. Besonders im Lande des Adlers gab es Gruppierungen, die diesen wunderbaren Sport im Erdnetz und anderen Medien künstlich wichtig machten und sich anschließend mit Werbung, Kartenverkäufen, Wettgeschäften und immer imposanteren Arenabauten eine goldene Nase erschlichen. Auch setzten Regierungen die Spiele oft geschickt ein, indem sie die damit einhergehenden Ausnahmezustände gezielt zur Verschleierung dunkler Machenschaften nutzten. Diese Tradition hatte sich schon über Jahrtausende bewährt!

Ben ging auf den Markt und tauschte seine letzten Ronen für ein paar Orangen, etwas Brot, Gemüse und Wasser ein. Er ging an den Strand und wollte sich mit den Orangen erfrischen. Zu seiner Enttäuschung waren sie ungenießbar. Dieses Phänomen hatte er schon länger bei verschiedenen Lebensmitteln bemerkt. Sie wurden zwar zunehmend größer gezüchtet, aber schmeckten einfach immer pappiger. Selbst der grüne Klee, den er eingesteckt hatte, war deutlich frischer als der Saft seiner Orangen.

Er salzte etwas Brot im Meer und nahm seine Mahlzeit zu sich, während er zufrieden die Flugmanöver zweier Möwen beim Fischen bewunderte.

Als er zurückkam, konnte er Maja nicht finden. Er kletterte in die Scheune, um sie zu suchen. Ein großes, wildes Pferd mit schwarzer Mähnen wütete dort in einem Gatter. Darüber spickten abscheuliche Teufelsmasken die graue Wand. Über eine Treppe erreichte Ben eine Art Bühne, wo wunderschöne Feenmasken mit Pfauenfedern die gegenüberliegende Wand verzierten. In der Mitte des Raumes lag Maja und schlief friedlich. Ben setzte sich zu ihr und sah sich die Wände zu beiden Seiten an - Gut und Böse - war diese Vorstellung nicht sehr oberflächlich?

Gut war für Ben, was immer die harmonischste Lösung für alles Lebendige suchte.

Böse war, was zu wenig Liebe erfahren hatte, und sich deshalb oft auf Kosten seiner Umwelt an das Leben klammerte. Stets unbefriedigt wollte es sie ausnutzen. Dem Bösen fehlte zunächst die Liebe zu sich selbst, sein Selbstwertgefühl. Ausserdem war ihm das Zusammenspiel alles Lebendigen mit seinem eigenen Wesen nicht klar.

Es war sicher richtig, dass jemand der eine böse Tat getan hatte, mit aller nötigen Härte zur Verantwortung gezogen wurde. Trotzdem vermisste Ben bei den Richtenden oft die Suche nach den Ursachen und das Verständnis für diesen Menschen. Wie sollte er sich sonst jemals ändern können?

Die Bilder von Gut und Böse waren fatal, denn sie vermittelten eine grundlegende Andersartigkeit zwischen Menschen, die in Bens Augen gar nicht vorhanden war. Wenn man jemanden aber erst einmal als Teufel gemalt hatte, war es ziemlich wahrscheinlich, dass er auch in Zukunft immer wieder diesem Ruf folgen würde. Oft unwissend, dass auch in ihm wahrhaftig das Potenzial eines strahlenden, glücklichen Menschen vorhanden war, welches einzig ihm gerecht wurde!

Das laute Wiehern Pedalus holte ihn aus der Gedankenwelt. Der Mann klopfte auf den Boden, um die schlafende Schlange zu wecken. Liebevoll sammelte er sie ein und kletterte ins Freie.

Eine echte Orange

Gestärkt setzten sie ihren Weg fort. Die schönen, grünen Dörfer an der Küste wichen immer größeren, steinernen Städten. In einer Siedlung namens Mataho hielten sie an. Ben musste sich Gedanken über ein Nachtlager machen. Vor einem Saloon saßen ein paar selbstgefällige Cowboys, rauchten und lachten dreckig. Ben fragte sie, ob es auf dem Weg in die große Metropole Badalon noch kleine naturreiche Dörfer gab.

“ Gleich das nächste Dorf ist sehr grün!”

Versprachen die Herrschaften. Sie sahen den Sonderling mit großen Augen an. Wo war er hergekommen und wo wollte er hin? War er mit diesem kleinen Esel unterwegs, der neben ihren Hengsten an der Tränke stand? Sie plauderten eine Weile, als sie ein fremder Mann unterbrach. Er torkelte auf den Saloon zu und wollte mit Ben reden. Sofort fuhren ihn die Cowboys an.

“ Lass ihn in Ruhe, du Nichtsnutz!”

Ben beschwichtigte seine Freunde. Er gab dem armen Unbekannten die Hand und hörte sich eine kurze Geschichte von ihm an. Der Fremde lud ihn zum Trinken ein, doch Ben wollte seine Sinne nicht mit Alkohol vernebeln. Im Gegenzug bot er ihm eine der pappigen Orangen an. Nachdem der Mann dankend abgelehnt hatte, torkelte er weiter. Er zeigte auf Ben:

“Wir sind Männer mit Herz!”

rief er zum Abschied in die Runde. Auch Ben verabschiedete sich von den leicht verwirrten Cowboys. Sie wussten nicht, ob sie ihm böse sein sollten, weil er ihre vermeintliche Hilfe untergraben hatte. Zum Glück vergaßen sie ihren Stolz schnell und wünschten ihm alles Gute für seine Reise.

Die Abendsonne war bereits auf ihrem Weg hinter die Berge, doch die versprochene grüne Siedlung blieb aus. Immer höher wurden die Gebäude am Meeresrand und immer länger die Schatten, die sie auf die jetzt kühlen Steine der Küstenstraße warfen.

Pedalus kämpfte sich mit letzter Kraft auf eine hohe Brücke, die ihre über eine andere Straße führte. Seine Beine zitterten von der Belastung der letzten Stunden. Es war höchste Zeit einen Rastplatz zu finden! Von hier oben konnte man die Stadt gut überblicken.

Akribisch prüfte der Mann die Gegend. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben! Mitten in dem Steinmeer machte er eine grüne Insel aus. Es musste sich um Fußballfelder handeln. Daneben war eine kleine Ansammlung wilder Bäume auszumachen. Im Hintergrund war das laute schnauben angestrengter Pferde zu hören, die gerade ihre kleppernden Kutschen auf den Grat gebracht hatten. Ben ging zu Fuß weiter. Es dämmerte bereits und er führte Pedalus jetzt durch die fahlgrauen Grasflächen. Dort wo er die Bäume ausgemacht hatte, befand sich etwas versteckt ein umgegrabenes Feld mit einer kleinen Wiese. Es schien ein brauchbarer Platz zu sein! Daneben türmte sich ein Berg mit Pflanzenschnittgut auf. Der Hund eines Nachbargrundstückes fing an zu bellen, als er die Vagabunden vorbei ziehen sah. Die halbe Nacht würde der tapfere Vierbeiner auf diese Weise sein Revier verteidigen!

Die kleine Wiese grenzte an den Garten eines Hauses. Während Pedalus sein verdientes Abendessen genoss, errichtete Ben das Nachtlager. Plötzlich fuhr eine Kutsche in das angrenzende Grundstück ein. Ein altes Paar stieg aus. Ben versuchte auf sich aufmerksam zu machen, doch man hörte seine Rufe offenbar nicht. Es war wohl besser die Menschen einfach in Ruhe zu lassen. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machten! Als sie ihr Heim bezogen hatten, spähten sie immer wieder durch die geöffneten Fenster nach draußen. Zum Glück war der Lagerplatz hinter einem dichten Busch getarnt, doch Ben musste ganz leise sein, um nicht aufzufallen.

Jetzt bemerkte er erst, dass Maja ganz unruhig war. Irgendetwas schlich ganz dicht bei ihnen durch das Gras. Plötzlich schnellte sie vor und legte sich in der Dunkelheit auf die Lauer. Hastig entfernten sich die schleifenden Geräusche wieder, bis sie schließlich in dem Pflanzenberg verstummten.

Im Morgengrauen wurde Ben von ganz anderen Geräuschen geweckt. Es klang, als ob jemand Steine auf die Wiese warf. Er kletterte unter dem Segeltuch hervor und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen.

“Plock” machte es direkt vor ihm. Er bewegte sich in die Richtung uns spähte durch die frische Morgenluft. “Plock” Direkt am Gartenzaun sah er eine Kugel ins Graß fallen. Er hob sie auf:

“Eine Orange!”

stellte der Mann mit leuchtenden Augen fest. Ein unscheinbares Bäumchen hatte sie nur für die hungrigen Gäste fallen gelassen. Die wenigen Äste, die über den Zaun hingen, hatten in dieser Nacht nämlich all ihre prallen Früchte abgeworfen, während im Garteninneren überhaupt keine Früchte auf dem Boden lagen.

Als Ben ein Stück probierte, musste er einen Moment innehalten. So frisch und klar war der Geschmack! Glücklich über das unverhoffte Frühstück und die Erinnerung, wie lecker diese Früchte normalerweise waren, sammelte er die restlichen Orangen ein. Er legte sie in das Netz mit Früchten, die er noch vom Markt übrig hatte. Die echten Exemplare waren zwar nur halb so groß, schmeckten aber um ein Vielfaches besser!

Ankunft in Badalon

Die letzte Etappe auf dem Weg in die große Metropole stand bevor. Nachdem Ben die Schriftsammlung aus dem Althia zu Ende gelesen hatte, machte er sich mit Pedalus auf den Weg nach Badalon.

Als sie durch die Vorstädte zogen, trafen sie auf ein paar fröhliche junge Männer. Begeistert wollten diese die Geschichte des Reisenden hören. Zum Abschied gaben sie ihm Brot und Bananen mit auf den Weg.

Endlich, an diesem sonnigen Vormittag empfing sie Badalons offene Tore. So viele Menschen kamen aus den umliegenden Dörfern zum Arbeiten hierher. Die Reisenden gingen in einem großen Strom von Kutschen, berittenen Pferden und Eseln unter.




Was in Badalon geschah, und wie Ben schließlich weiter durch das Land des Stieres bis an den Aklanit und von dort auf die Kanischen Inseln gelangte, und was sich dort auf Gra Kanien alles ereignete... all das soll zu gegebener Zeit folgen. Schließlich knüpft unser Märchen an dem Schicksal des jungen Mannes an, welches ihm anschließend in den wilden Winden der Ribakei zuteil wurde!




Auf weiten Schwingen

… der riesige Albatros segelte unermüdlich über die wütenden Wellen Richtung Süden, der Regen vom Wind über die weißen Federn peitschend. Auf seinem Rücken hatte Ben einen sicheren Platz gefunden. Hin und wieder wurden sie von einer heftige Bö erfasst und er musste sich mit aller Kraft festhalten, um nicht herunter zu fallen. Durch die grauen Wolken sah man in der Ferne eine Insel am Horizont auftauchen, die der Fliegende die ganze Zeit vor sich wusste. Schon viele Male hatte der Albatros diesen Weg in seinem langen Leben hinter sich gebracht. Ben hatte Glück gehabt ihn hier im Ribakischen Meer wieder zu treffen!

Er musste an ihre erste Begegnung auf Gra Kanien, einer der Vulkaninsel vor dem Frikanischen Kontinent zurückdenken:

Das Zeichen der Demut

Zu dieser Zeit hatte Ben mittellos im Hafen gelebt, wo er Reisenden Aushalf um mit ihnen den Lebensunterhalt zu teilen und handwerkliche Erfahrungen für die Weiterreise zu sammeln. Ausserdem hatte er hier die Sprache der Vögel verstehen gelernt, welche Einflüsse aus allen Teilen der Welt vereinte. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, das große Meer des Westens, den Aklanit zu überqueren durfte er Bekanntschaft mit diverse Exoten machen.

Eines Morgens schlief noch der ganze Hafen – Nein, fast der ganze Hafen. Zwei Wesen waren schon am Werk, bevor die ersten Strahlen der Sonne die gräuliche Dämmerung vertreiben konnten.

Ben hatte diese Nacht unter der roten Walnussschale geschlafen, die einem anderen Suchenden der Meere geschenkt worden war, der damit nicht viel anzufangen wusste und sie Ben gegeben hatte. Diesem aber war sie von großem Nutzen. In seinem Stoffbeutel trug der junge Mann nämlich immer eine Hand voll magischer Gegenstände mit sich, die ihm im Laufe seines Lebens geschenkt worden waren. Einer davon war das Zeichen der Demut. Legte er es an, wurde der Mann so klein, dass er gut in die Nussschale passte. Auch wurde er dadurch so unscheinbar, dass ihn viele besonders gefürchtete Gestalten einfach links liegen ließen, was es kleinen Ben überall sehr leicht machte, seine eigensinnigen Pläne ohne unnötige Schwierigkeiten umzusetzen!

Nachdem er morgens die Schale zur Seite gewälzt und seine Glieder gereckt hatte, paddelte er in ihr aufs Meer hinaus. Er hatte gesehen, dass sich des Nachts Neuankömmlinge ausserhalb des Hafens niedergelassen hatten. Doch wieder einmal war niemand an einer Zusammenarbeit interessiert – nur verschlafene, ungepflegte windige Gestalten, die sich irgendwo breit gemacht und uninteressiert den Kopf zwischen die Flügel gesteckt hatten...

Plötzlich sah Ben aus dem Augenwinkel, wie sich im Hafen der Kopf eines mächtigen Vogels, der mit zahlreichen blau leuchtenden Federn geschmückt war, über dem verschlafenen Getummel in den Himmel reckte. Es war einer der größten Zwischenmieter hier. Ein majestätischer weißer Albatros. Er war schon zu früher Stunde dabei, seine Glieder für die weite Reise geschmeidig zu halten. Diese blauen Federn... Ben staunte. Er wusste das jeder Reisende, der den Flug über den Aklanit wagte aus Anerkennung von anderen Vögeln eine solche Feder bekam. Nicht weniger als zwanzig Stück hatte er gezählt!

Die Möglichkeiten hier aufsteigen zu dürfen, waren unwahrscheinlich gering. So erfahrene, durchtrainierte Langstreckenflieger nahmen meistens nur gut betuchte Gäste mit, die den Flug in erster Linie genießen wollten, und im Gegenzug mit Pflegemitteln und Gewürzen aus aller Welten Länder dienten. Da ausser diesem Giganten aber niemand ansprechbar war, machte sich Ben auf ans Ufer. Das Zeichen der Demut behielt er an, um den Vogel nicht durch seine ganze menschliche Größe zu vertreiben.

Eine Prüfung mit Adleraugen

Als der Albatros den kleinen Ben vom Ufer winken sah, machte er tatsächlich eine einladende Geste. Er hieß Manfred. Über den Aklanit wollte er. Dann weiter, über die Inseln der Ribakischen Gewässer nach Vezalunien, und schließlich über die Zoranen zurück bis an die wilde Küste des Stierlandes. So wie er es schon seit vielen Jahren zu tun pflegte. Sogar die ganze Welt hatte er schon einmal umsegelt. Die Gattung der Albatrosse war überall berüchtigt für ihre schier endlose Ausdauer und monatelangen, ununterbrochenen Flüge. Daher traf man sie nur selten an Land, besonders wenn es um die Familienpflege ging. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten sie jedenfalls in den Winden über dem Meer.

Auch wenn dieser junge Mann vor ihm nichts als leere Hosentaschen vorzuweisen hatte, konnte Manfred eine ungewöhnlich aufrechte Haltung wahrnehmen. In seinen Augen erkannte er den berüchtigten Adlerblick. Ein diesem Volk auf dem ganzen Erdball nachgesagter, ausgeprägten Sinn für Ordnung und Zuverlässigkeit. Manfred selbst hatte eine enge Verbindung zu diesem Land. So hatte er als Jungtier doch dort erst das Fliegen gelernt. Viele seiner Artgenossen waren auf der Strecke geblieben, während er es mit seinem Durchsetzungsvermögen geschafft hatte, genug Kraft und Ausdauer zu sammeln, um zu lernen seine Flügel zu benutzen. Er musste wohl viele Bekanntschaften mit Adlern gehabt haben, und womöglich auch viele von ihnen im Kampf um Nahrung in die Flucht geschlagen haben...

Der Vogel hielt ihm ein Stück Hanfseil entgegen. Er zeigte ihm ein paar Knoten und Würfe und überzeugte sich vom Geschick des kleinen Mannes. Auf See konnte es bisweilen sehr ungemütlich werden, aber das hier schien ein brauchbarer Genosse zu sein. Doch nahm der Albatros auch einen ungewöhnlichen Zug im Wesen des Mannes wahr, der ihm nicht häufig unterkam. Dort war eine seltene unergründbare Tiefe und Unzähmbarkeit. Er musste noch von einer anderen Linie abstammen! Dieser Ben war irgendwie anders klein als die Gäste, die er für gewöhnlich beherbergte! Was das nur zu bedeuten hatte?

Es gäbe sicher unkompliziertere Mitreisende für Manfred, der immer ziemlich genaue Vorstellungen davon hatte, wie die Gewohnheiten eines Windreisenden auszusehen hatten. Doch er würde schon einen Weg finden, mit ihm zurecht zu kommen. Dazu war er in seinen hohen Tagen mit ausreichend Lebenserfahrung gesegnet.

Großes Albatros Ehrenwort

Leider hatte Manfred schon zu viele Gäste an Bord, die wertvolle Gaben für den Flug leisteten. Auf so einer weiten Reise konnte man sich keinen gefährlichen Streit in der Mannschaft leisten, weil sich jemand benachteiligt fühlte. Obwohl er Ben gerne einfach mitgenommen hätte, konnte er das jetzt also nicht tun. In den Ribakischen Gewässern allerdings sprangen die Gäste normalerweise schnell ab. Sie wussten, das Manfred es liebte bis in die südlichen Winkel ja bis zur Küste des Südmirakischen Kontinentes zu reisen, wo er sich auf den weißen Stränden mit alten Bekannten zusammenfand und weiter im Inland alte Kraftorte aufsuchte. Dort war selbst für den riesigen Albatros die Gefahr gegeben, von ein paar aussässigen Veziluna, seiner edlen Federn wegen in Stücke gerissen zu werden. Es konnte also nicht verkehrt sein, einen starken Mann dabei zu haben. Also gingen die beiden wieder ihrer Wege, mit dem Versprechen sich in der Ribakei zur Weiterreise nach Vezalunien zusammen zu finden. Ein Ehrenwort - das war etwas ganz besonderes unter Windreisenden, die ihre Einstellung normalerweise so zuverlässig wie die Richtung des Windes zu ändern pflegten.
Manfred hatte jedenfalls keine Zweifel, dass Ben eine Möglichkeit finden würde, über den Aklanit zu gelangen. Aber diese Geschichte ist ein anderes Kapitel... zurück in die Ribakei!

Von Ribakischen Inseln

… Der Albatros ließ sich nach einem Tagesflug in einer Bucht vor dem Strand nieder. Viele tropische Vögel hatten hier Unterschlupf vor den unangenehmen Winden gesucht. Die meisten waren kleinerer Art und in ihrem Leben nicht so weit gereist, weshalb sie dem alten Genossen, in dessen Augen das Feuer immernoch heiß glühte, großen Respekt entgegen brachten. Ben half dem mächtigen Vogel seine Federn zu säubern. Stundenlang tauchte er ab um ihm die gestählten Beine, die jetzt über dem Riff ins Meer baumelten von Algen und kleinen Lebewesen zu befreien, die sich im Laufe der Zeit dort gemütlich gemacht hatten, und das Fliegen erschwerten. Der junge Mann genoss die Arbeit in den warmen ribakischen Strömungen sehr.

Wie an jedem neuen Ort tauschte Manfred sich mit vielen alten Bekannten die er zuletzt im vorherigen Jahr gesehen hatte, über die Winde aus. Sie berichteten auch von Geschichten die sie über die Lage im Norden Südmirakiens vernommen hatten. Anschließend nahm er Ben mit auf die Anbaufelder der Menschen und sie gingen in den Wald. Er zeigte ihm wo sie tropischer Früchte, Gemüse, Wurzeln und Gewürze fanden, und sie nahmen reichlich. Dann fingen sie noch ein paar Fische im Meer.
Bei einem letzten Spaziergang über die Insel, kam Ben an einem alten Friedhof vorbei. Große Bewunderung erfüllte ihn beim Anblick der Grabmäler. Auch wenn Ben keinen Wert auf Gräber legte - die liebevollen Texte und Bilder mit der die Inselbewohner ihrer Vorfahren gedachten, zeugten von echter Verbundenheit.
Als er weiter ging fand er einen riesigen Baum in einem Park vor. Darunter saß ein altes Mütterchen auf einer Bank. Ihr Blick schweifte über eine große Kirche, die direkt am Park gebaut war. Ben fragte höflich ob er sich zu ihr setzen dürfe. Bald erzählte sie ein wenig von ihrer Familie und dem zufriedenen Leben hier auf der Insel. Zum Abschied tauschten sie Glückwünsche aus. Aber bevor er zurück ging, wollte Ben sich die Kirche auch noch von Innen ansehen. Er war angenehm überrascht: Alle Bilder hier zeugten von Frohsinn, Frieden und Heilung und waren in den buntesten Tönen auf die einfache Wand gemalt worden. So kannte er das aus seiner Heimat nicht. Er musste an ein paar bestimmte Freunde denken, mit denen er den Anblick gerne geteilt hätte. Wieder zurück im Hafen, verbrachte Ben die Nacht in dem weichen Federbett auf dem Rücken des Albatros.

Mit dem Albatros durch die Winde

Schon zu früher Morgenstunde zogen sie mit den Winden weiter. Bald hatten sie die Insel hinter sich gelassen und waren nur noch von Wasser umgeben. Das Wetter war aufgeklart und die Sonnenstrahlen spiegelten sich in unzähligen Facetten auf der Meeresoberfläche wider. Oft segelte Manfred Stundenlang ohne eine Reaktion zu zeigen über die Wellen und sein Blick ruhte in der Ferne. Hin und wieder machte er eine winzige Bewegung mit dem Schwanz oder änderte die Position seiner Flügel. Dabei wusste er immer ganz genau auf welchem Kurs sie gerade waren.

Manfred war ein begnadeter Feinschmecker. Er zeigte Ben welche Zutaten sich besonders gut kombinieren ließen, und wie man die gesammelten Vorräte einteilen musste um für den ganzen Weg versorgt zu sein. Anfangs hatte Ben noch wenig Erfahrung mit dem Fliegen in so großen Höhen. Das stetige auf und ab konnte einem ganz schön auf den Magen gehen! Doch bald lernte Ben seinen Appetit zu zügeln wenn sie flogen, das half am besten. Auch hatten sie eine große knollige Wurzel gefunden, die er in kleinen Scheibchen auf der Zunge zergehen ließ. Sie war unglaublich scharf, aber half gut, Bauch und Gemüt zu beruhigen.

Wenn Manfred müde wurde, schlief er einfach ein und flog weiter. Davor aber wies er Ben mit seinem Schnabel die Richtung, so dass dieser wusste, wie er die Ausrichtung der mit Hanfschnüren verbundenen Schwanzfedern korrigieren musste. Dazu gab er sanften Zug gegen den Wind. Die Neigung der blauen Federn half ihm dabei, ihren Kurs einzuschätzen. Anfangs hatte Ben noch nicht sehr viel Übung darin, so dass es vorkommen konnte, dass sie eine heftige Bö erwischte und den Vogel durchschüttelte. Dann öffnete dieser verständnisvoll die müden Augen und korrigierte seine Position.
Sehr häufig war er aber auch wegen Kleinigkeiten gereizt und fluchte so böse, dass heißes Feuer aus dem Schnabel direkt in Bens Gesicht flammte. Eine Eigenschaft die keineswegs normal für Albatrosse war, die normalerweise gar kein Feuer spuckten. Ben hatte sich auch schon die Haut dabei verbrannt. Doch würde er das Zeichen der Demut ablegen, würde ihn der Albatros nicht mehr tragen können und er wäre den Haien im weiten Meer ausgeliefert. Daher musste er es Manfred auf anderem Weg spüren lassen, wenn die Situation zu heiß wurde. Dann nahm er das Band der Unschuld zu Hilfe, welches ihm ein kleiner Junge vor langer Zeit auf Mesoras Strand geschenkt hatte. Wenn er das magische Band anlegte, musste der Albatros den Blick abwenden. Er konnte nicht in die klaren Augen eines Kindes sehen, in denen sich seine boshaften Flammen spiegelten.
Ben war klar, dass der alte Vogel schon ein gutes Herz hatte. Aber durch die Jahrelangen harten Kämpfe mit gierigen Adlern und seine vielen einsamen Reisen durch rauhe Winde, lag es so tief unter den schützenden Federn, dass er es zuweilen selbst nicht mehr spürte.

Um das unberechenbare Gemüt Manfreds nicht herauszufordern, behielt Ben die meisten Fragen für sich. Doch die Ruhe hier oben, war ohnehin eine wahre Freude! Er genoß das Spiel mit dem Wind und liebte es, die gewaltigen Wassermassen unter ihnen zu betrachten. Nachts spiegelte sich das Sternenlicht magisch über den Wellen. Wenn Ben seinen Blick nach oben wendete, konnte er dener strahlendsten Sternenhimmel betrachten, den er je gesehen hatte. So unendlich groß war er, wie er sich hier in seinem ganzen gewaltigen Ausmaß offenbarte!

Cuavotado über Bord

Der Albatros steuerte Pitonga Luz an, welches auf Ihrem Weg lag. Die Insel war eine Kolonie des königlichen Regenlandes, welches auf der anderen Seite des Ozeanes lag und sehr einflussreich war. Hier wollte Manfred einen alten Bekannten mitnehmen.
Der gebürtige Adlerländer Namens Walter war zu jüngeren Zeiten ein hochrangiger Ordnungshüter gewesen. Wie Manfred auch, konnte er der Faszination Vezaluniens einfach nicht widerstehen. Es war nicht das erste Mal, dass sie zusammen dort hin reisten. Wie Ben trug auch Walter ein Zeichen der Demut, doch seines war noch viel schöner. Der kleine Ben fand, dass der freundliche Mann ein gutes Gegengewicht zu Manfreds rauhem Charakter bildete. Weil er aber auch unglaublich viel sprach, konnte es manchmal anstrengend sein, sich mit ihm zu unterhalten. Jedes seiner Wort zeugte jedenfalls von großem Verständnis. So waren alle sehr froh über die neue Unterstützung!

Die Winde des Himmels waren über die ganze Reise ungewöhnlich wach und bisweilen stieg das Geräusch ihres stetigen Rauschens, wie sie über die weißen Federn fegten, zu einem bedrohlichen Fauchen an. Ben hatte inzwischen gelernt, den majestätischen Albatros über die Hanfschnüre gut im Kurs zu halten. Als der Vogel sich gerade mit seinem alten Freund beschäftigte, pfiff der Wind plötzlich los. Der gesamte Körper des Luftriesen drehte sich so stark zur Seite, dass eine Cuavotado, eine Frucht die sie zum Ausreifen auf Manfreds Rücken an die Sonne gelegt hatten, mit einem Satz aus ihrem Federbett sprang und davon kullerte. Niemand hatte Zeit, das Plumpsen zu beachten, mit dem sie in der Tiefe ins Meer gefallen sein musste... Ben konnte den Vogel mit den Schnüren in stabiler Position halten, bis der Albatros endlich selbst seine Glieder regte. Schließlich wollte dieser doch sicher gehen, dass seine Reisenden nicht bald das selbe Schicksal wie die Cuavotado ereilte. Seine Flügel bogen sich unter dem Druck, und die Federn ächzten. „Krack!“ eine Reihe von Federn hatten sich an der Wurzel gelöst und schlugen jetzt lose im Wind hin und her. Manfred schrie vor Schreck auf und verlor an Flughöhe. Er kämpfte, um das Loch in seiner Segelfläche durch geschicktes Manövrieren so auszugleichen, dass er sich nicht vollends überschlug und wie ein Stein ins Wasser stürzte. Um seine Schmerzen konnte er sich jetzt nicht kümmern. Walter versuchte die Federn einzufangen, doch er konnte sie nicht erwischen. Ben kletterte flink auf den verletzten Flügel, und es gelang ihm die losen Federn einzufangen und so zu halten, das Walter sie notgedrungen mit Schnüren befestigen konnte.
Gut dass die Federn nicht verloren gegangen waren, es wäre schwierig geworden auf hoher See Ersatz zu finden!
Die Männer schwiegen, sie waren konzentriert bei der Sache. Manfred hielt sich wacker. Der Schmerz hielt ihn wach und er flog so, dass er nicht noch einmal derart von den Winden überrascht werden konnte. Die Nacht brach ein, und auch der Wind wurde ein wenig müde. Aber unter ihnen türmten sich die Wellen höher denn je, und die feuchte Gischt ließ die Meerluft stark nach Salz schmecken. Der Albatros musste sich ausruhen, und die beiden kleinen Menschen wechselten sich mit dem Steuern ab.

Das letzte Stück wollte Manfred wieder frei fliegen, der Schmerz war ganz vergessen. Ben legte sich auf den Rücken und blickte in den magischen Sternenhimmel. Sie flogen jetzt sehr tief um das Wasser besser im Blick zu haben. Mit weit geöffneten Augen spähten sie in die Dunkelheit. Sie durften einen leuchtenden Felsen, welcher der einzige Wegweiser weit und breit war, nicht verpassen. Ben hätte sich lieber unter den Federn verstecken sollen, denn er wurde ganz nass von der feuchten Luft. Aber es war einfach zu schön hier draussen!

Ankunft auf Maga

Im Morgengrauen erreichten sie schließlich Maga - die letzte Insel vor dem Festland. Dicht über der Meeresoberfläche segelten sie an schlafenden, grau weißen Felsen vorbei, die hier und da aus dem Meer ragten. Eine Delfinfamilie die den alten Vogel wieder erkannt hatte, begrüsste den Albatros unter fröhlichen Pfiffen und die freundlichen Tiere geleiteten ihn Richtung Ufer. Ben half dem Vogel bei der Landung auf dem Wasser, indem er nach versteckten Riffen Ausschau hielt. Die Landung konnte bei den großen Vögeln immer eine heikle Angelegenheit werden, die manchmal sogar mit Knochenbrüchen verbunden war. Wegen ihrer hohe Fluggeschwindigkeit und dem Eigengewicht war der zielgenaue Anflug bei schlechtem Wetter oft schwer kontrollierbar! Doch Manfred war schließlich schon sehr erfahren und vollbrachte eine wahrlich elegante Wasserlandung vor Magas Strand.

Das graue Meer war von zahlreichen Pelikanen besetzt, die vor sich hin dösten. Da fand das Licht der tropischen Sonne seinen Weg durch die Dämmerung, und ließ den Palmenbesetzten Küstenstreifen hell aufleuchten. Nach langem Flug durfte Manfred endlich wieder ein Mal seine mächtigen Flügel auf dem Rücken zusammenfalten.

Ganz in ihrer Nähe konnte Ben einen uralten buckeligen Wal ausmachen. Er schien zu schlafen, während sich sein von Muscheln und Seetang bedeckte Körper trotz der vielen Wellen kein bisschen bewegte. Eine seltsame Anziehung ging von diesem Wesen aus. Doch Manfred beachtete es überhaupt nicht. Er spähte mit grimmiger Miene über das Meer Richtung Ufer, wo ein paar angeleinte Kormorane lagen.

Die schnellen Tauchvögel wurden von den kleinen Vezaluni - Fischern für die Jagd genutzt. Allerdings kam es immer häufiger vor, dass sie von Dieben für Raubzüge auf fremde Vögel missbraucht wurden! Normalerweise wimmelte es um diese Zeit hier nämlich nur so von den verschiedensten Vögeln aus der Ribakei und aller Welten Länder. Doch der Albatros war ja schon von den Inselvögeln gewarnt worden, dass sich die Lage im nördlichen Südmirakien verschärft hatte. Es hieß, dass zuletzt viele Besucher Magas ihrer prächtigen Erscheinung wegen, um ihre Federn gebracht worden waren. Viele Fremde trauten sich deshalb gar nicht mehr in die Nähe! Ob es tatsächlich so schlimm geworden war?








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Image: John Mason